Unternehmerisches
Gesellschaftsinteresse und
Fremdsteuerung

Eine rechtsvergleichende Studie zum Schutz
der Kapitalgesellschaft vor dem
Mißbrauch organschaftlicher Leitungsmacht
 
 
 
 
 

von
 

Dr. Günter Reiner



 
 
 
 
 
veröffentlicht bei: C.H. Beck München, 1995

 

Die elektronische Fassung des Werks im Originaldruckbild (ca. 4 MB) finden Sie hier (mit freundlicher Genehmigung des Verlags C.H. Beck)
 
 


Die Arbeit stellt die rechtlichen Grenzen der Leitung einer Kapitalgesellschaft als allgemeines Problem der Pflichtbindung der Gesellschaftsorgane und einflußnehmender Dritter auf den Schutz des unternehmerischen Gesellschaftsinteresses dar. Unter eingehender Analyse der französischen Rechtslage werden die dogmatischen und praktischen Unzulänglichkeiten etablierter Rechtsinstitute des deutschen Kapitalgesellschaftsrechts nachgewiesen. Kritisch beleuchtet werden u.a. die gesellschaftliche Treuepflicht, die Lehre von den verdeckten Gewinnausschüttungen und die Durchgriffshaftung wegen Vermögensvermischung bzw. qualifizierter faktischer Konzernierung. Darauf aufbauend wird ein eigenes Modell für die rechtliche Kontrolle der Leitung abhängiger Kapitalgesellschaften entwickelt, als dessen leistungsfähigen Maßstab er den Begriff der vorsätzlichen Fremdsteuerung herausstellt.



Inhaltsverzeichnis:
Zielsetzung der Arbeit

Das deutsche „Konzernrecht" der faktisch beherrschten Kapitalgesellschaft bei Fehlen eines organschaftlichen Unternehmensvertrags oder eines Eingliederungs-beschlusses bedarf einer klä-renden Neubestimmung. Das Zusammenspiel der aktienrechtlichen „Konzernverfassung" und einer im-mer weiter differenzieren-den Rechtsprechung zum rechtlichen Schutz der abhängigen Gesellschaft, insbe-sondere zum nicht kodifizierten „GmbH-Kon-zernrecht", erreicht ein Maß an Komplexität, deren Durchdringung wenigen „Spezialisten" vorbehalten zu bleiben scheint. Die Zweifel an der Richtigkeit des eingeschlagenen Weges verstärken sich bei einer Gegenüberstellung mit dem französischen Recht, das vor vergleichbaren wirtschaftlichen Interessenkonflikten steht und das deshalb für die folgenden Überle-gungen exemplarisch als Ideenquelle und Kontrollmaßstab herangezogen werden soll. Am augenscheinlichsten ist hierbei die Beobach-tung, daß es in Frankreich spezifi-sche Mechanismen zum Schutze der konzernabhängigen Kapitalgesell-schaft vor schädlichen Einwirkungen der Konzernleitung weder in der Gesetzgebung noch in der Rechtsprechung gibt, obwohl der Konzern auch dort in seiner Eigenschaft als wirtschaftliches Phänomen durchaus erkannt und definiert wird. Angesichts dieses Befundes erscheint es nützlich, das deutsche Recht des faktischen Kapitalgesellschaftskonzerns noch einmal von Grund auf in Frage zu stellen und ausgehend vom In-halt des „Konzernkonflikt" genannten wirt-schaftlichen Phänotyps rechtsordnungsübergrei-fend neu zu ordnen. Besondere Beachtung soll dabei der Rechtsfigur des soge-nannten „qualifizierten faktischen Konzerns" geschenkt werden, die dem franzö-sischen Rechtsdenken völlig fremd ist. Die vorliegende Arbeit versteht sich dabei als rechtstheoretischer Ansatz mit dem Ziel, die Strukturen des deutschen Gesellschaftsrechts in einem Teilbereich zu vereinfachen. Ihr Anliegen ist es nicht, in abschließender Weise den rechtlichen Gestaltungsspielraum erlaubter Konzernleitung unter Einbeziehung aller rechtlich relevanten Gesichtspunkte (Betriebsverfassungsrecht, Arbeitsrecht, Auf-sichtsrecht) darzustellen. Europarechtliche Vorgaben werden insoweit angesprochen, wie sie im Rahmen der Konzeption dieser Arbeit für die Gedankenführung von Interesse sind.

Zusammenfassung

1. Der "Konzernkonflikt" beschreibt das allgemeine Problem des rechtlichen Schutzes der Wil-lensbildung der Handlungsorgane einer Kapitalgesellschaft vor einer vorsätzlichen Mißachtung des unternehmerischen Gesellschaftsin-teresses, verstanden als Standard des ordentlichen und gewissenhaften Kaufmanns (Fremdsteuerung). Die Theorie von der "konzernspezifischen Gefährdung" kann eine besondere rechtliche Behandlung des Phänomens der Fremdsteuerung nur auf der beweisrechtlichen Ebene und auch hier nur im Einzelfall rechtfertigen. Ein materielles Konzernhaftungsrecht darf es nicht geben. Der "Konzernkonflikt", verstanden im Sinne einer generell erhöhten Gefahr von Fremdsteuerung bei Bestehen von außergesellschaftlichen unternehmerischen Interessen der Organmitglieder, ist als wirtschaftlicher Phänotyp nicht nachweisbar. Die Regelung der §§ 317, 311 AktG geht an dieser Erkenntnis vorbei. Der Begriff des "herrschenden Unternehmens" ist, so wie er bisher verstanden wird, als Haftungskriterium ungeeignet, weil er die Ebene der in-nergesellschaftlichen Willensbildung der Organmitglieder einerseits und die Ebene außerhalb der Gesellschaftsorgane stehender Dritter, die Einfluß auf diese Willensbildung nehmen, an-dererseits nicht ausreichend gegeneinander abgrenzt. Er sollte aus diesem Grunde abgelöst werden durch das Begriffspaar des "persönlich abhängigen" Organmitglieds und des dieses "persönlich beherrschenden" Dritten. Das unternehmerische Gesellschaftsinteresse funktioniert als Maßstab der Beur-teilung des Organhandelns auch im Konzern. Ein eigenständiges "Konzerninteresse", das dem Gesellschaftsinteresse gleich- oder übergeordnet wäre, existiert nicht.

2. Der Begriff der Fremdsteuerung zeichnet die rechtliche Trennlinie zwischen Wirksamkeit und Verweigerung der rechtlichen Anerkennung objektiv gesellschaftswidriger Rechtsgeschäfte der Gesellschaftsorgane. Für die Inhaltskontrolle von Gesellschafterbeschlüssen folgt dies aus der Theorie des Rechtsmißbrauchs in Verbindung mit der funktionalen Pflicht-bindung der Ausübung des Stimmrechts auf die Erreichung des Gesellschaftszwecks. Der gesellschaftsrechtliche Gleichbehandlungsgrundsatz bleibt als Maßstab der In-halts-kontrolle ohne eigenen Erkenntniswert. Der Rechtsfigur der "gesellschaftlichen Treuepflicht" des Gesellschafters gegen-über seinen Mitgesellschaftern bzw. gegenüber der Gesellschaft fehlt die nötige rechtsdogmatische Fundierung und Eingrenzung. In ihrer gegenwärtigen Form ist sie nicht mehr als eine Leer-formel, die sich für die Be-schlußkontrolle als überflüssig erweist. Für die Inhaltskontrolle der Rechtsgeschäfte der Geschäftsleitung ergibt sich der Maßstab der Fremdsteuerung aus dem Rechtsinstitut des Mißbrauchs der Vertre-tungsmacht, in das die Fallgruppen der eigent-lichen und der uneigentlichen "verdeckten Gewinnausschüttungen" einzuordnen sind. Rechtlich fehlerhaft sind danach vorsätzlich nachteilige Verträge der Gesellschaft, wenn der Vertragspartner Kenntnis von der Nachteiligkeit und vom Vorsatz des Vertretungsorgans hat. Die Lehre von den gesellschaftsrechtlichen (eigentlichen) "verdeckten Gewinnausschüttungen" ist angesichts der fehlenden Vergleichbarkeit zwischen der Problematik des Schutzes der gesellschaftlichen Willensbildung einerseits und ertragssteuerrechtlichen Regelungsinhalten andererseits im Ansatz verfehlt. Eines Rückgriffs auf die "gesellschaftliche Treuepflicht", die zum Teil zur Sanktionierung uneigentlicher "verdeckter Gewinnausschüttungen" bemüht wird, bedarf es auch in diesem Zusammenhang nicht. Die objektive Unangemessenheit eines Gesellschaftergeschäfts kann für sich allein dessen Fehlerhaftigkeit nicht nach sich ziehen. Dies gilt selbst dann, wenn sie auf einer schuldhaft unzutreffenden Beurteilung des Gesellschaftsinteresses beruht. Der Anwendungsbereich der §§ 57 ff. AktG und 30 f. GmbHG ist auf die Fälle offener Einlagenrückgewähr und offener Gewinnausschüttungen (formeller Kapitalschutz) zu beschränken.

3. Der Begriff der Fremdsteuerung skizziert aus der Sicht der Gesellschaft im Grundsatz zugleich die rechtliche Trennlinie zwischen erlaubter und schadensersatzpflichtiger organschaftlicher Willensbildung sowie zwischen erlaubter und schadensersatzpflichtiger Einflußnahme hierauf von außen. Fremdsteuerung begründet Haftung und begrenzt sie. Diese Aussage gilt zunächst für die rechtlichen Grenzen der Ausübung des Stimmrechts in der Gesell-schafterversammlung mit Ausnahme der Haftung der Mitglieder des Leitungsorgans. Letztere ist rechtsgeschäftlicher Natur und allein aus diesem Grunde unterliegt sie einem Fahrlässigkeitsmaßstab. Diese Aussage gilt aber auch für die Pflichtbindung dritter, außerhalb der Geschäftsleitung stehender Per-sonen auf das unternehmerische Gesellschaftsinteresse. Diese dürfen grundsätzlich von ihrem Einfluß (sog. "Leitungsmacht") auf Mitglieder der Geschäftsleitung, die von ihnen persönlich abhängig sind, bis zur Grenze der Anstiftung zur Fremdsteuerung Gebrauch machen. Die "konzernrechtlichen" Vorschriften der §§ 317, 311 AktG verkennen diesen Zusammenhang. Das Rechtsinstitut der "gesellschaftlichen Treuepflicht" ist angesichts der Leistungsfähigkeit des Deliktsrechts auch im Rahmen der Haftung für die Einflußnahme auf die Geschäftsleitung entbehrlich.

4. Die Pauschalhaftung der Geschäftsleiter, der Gesellschafter oder sonstiger Dritter wegen "Vermögensvermischung" bzw. wegen "mißbräuchlicher Beherrschung" ist keine eigene Haftungskategorie, sondern eine Form des Einzel-ausgleichs wegen Fremdsteuerung, die beweisrechtlich zu begründen ist. Haftungsauslösend ist jeweils eine unbestimmte Anzahl von tatbestandsmäßigen Einzeleingriffen, die im einzelnen nicht nachweisbar sind, bei denen die Tatsachengerichte aber aufgrund qualifizierter Indi-zien davon ausgehen, daß sie in ihrer Gesamtheit einen Schaden verursacht haben, der mindestens dem eingeklagten Betrag in Höhe der Überschuldung bzw. des Jahresverlustes entspricht. Die Haftungsvoraussetzungen und das Haftungsregime der Pauschalhaftung haben sich nach der jeweiligen Tatbestandsaus-formung der in Betracht kommenden Normen des Einzelausgleichs zu richten. Nicht nur im Konkurs, sondern auch in den Fällen, wo es nicht zur Eröffnung eines Konkursverfahrens kommt, ist der bisher den Gesellschaftsgläubigern gewährte Einzeldurchgriff durch eine Binnenhaftung des Schädigers gegenüber der Gesellschaft zu ersetzen. Die Gerichte müssen die Grundlagen ihrer Überzeugungsbildung im einzelnen offenlegen. Eine beweisrechtliche Regelbildung ist nicht möglich. Haftungspauschalierung ist Beweiswürdigung im Einzelfall. Ein entscheidendes, aber nicht ausreichendes Indiz zur Rechtfertigung einer Haftungspauschalierung bildet der Nachweis einzelner Akte von Fremdsteuerung, die den Verdacht nähren, daß die Geschäftsleiter das Gesellschaftsinteresse in einer systematischen Weise mißachtet hat. Der Begriff des "qualifizierten faktischen Konzerns", verstanden als Zustand "dauerhafter und umfassender" Ausübung unternehmerischer "Leitungsmacht", vermag rechtliche Bedeutung weder auf materiell-rechtlicher noch auf beweisrechtlicher Ebene zu entfalten. Er ist funktionslos und deshalb überflüssig.

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