DR. GÜNTER REINER

Die Eigendynamik der Europäischen Privatrechtsvereinheitlichung als Folge der fehlenden Kompabilität von europäischem und nationalem Recht:

Das Beispiel der Wirksamkeit von Gerichtsstandsklauseln in Gesellschaftssatzungen

Erstveröffentlichung in:

Hanns Martin Schleyer-Stiftung (Hrsg.): Europa als Union des Rechts - Eine notwendige Zwischenbilanz im Prozeß der Vertiefung und Erweiterung (Ein Almanach junger Wissenschaftler), Köln 1999.

Das Europäische Recht ersetzt bzw. ergänzt das nationale Recht. Mangelnde Kompatibilitäten zwischen beiden Rechtsordnungen können zu Spannungen führen, die sich wegen des Vorrangs des Europarechts nur durch eine über den Wortlaut hinausgehende, erweiternde Anwendung des Europarechts und die gleichzeitige Zurückdrängung des nationalen Rechts lösen lassen. Dieser Effekt kann sich u.a. darin äußern, dass europarechtliche Regelungen, die speziell für grenzüberschreitende Sachverhalte geschaffen wurden, auf rein innerstaatliche Sachverhalte ausgedehnt werden müssen. Man sieht dies deutlich am Beispiel der Wirksamkeit einer Gerichtsstandsklausel in der Satzung einer Aktiengesellschaft (AG), einer Problematik, die angesichts der zunehmenden Klagebereitschaft von Aktionären immer mehr an Bedeutung gewinnt.

1. Die Überlagerung des nationalen Rechts durch spezielles Europarecht für grenzüberschreitende Sachverhalte

Nach autonomem deutschen Zivilprozessrecht wird die Wirksamkeit von Gerichtsstandsklauseln in Satzungen mit einer Analogie zu § 1066 ZPO begründet, gleichzeitig aber analog § 40 II ZPO unter den Vorbehalt des Vorranges gesetzlich normierter ausschließlicher Gerichtsstände (z.B. §§ 132 I 1, 246 III 1 AktG) gestellt. Eine weitere Einschränkung der Wirksamkeit ergibt sich aus der gesellschaftsrechtlichen „Kernbereichslehre" für solche Gerichtsstandsklauseln, die erst nachträglich in die Satzung eingefügt werden und einen anderen Gerichtsstand als den Ort des Gesellschaftssitzes festlegen. Hier soll die Zustimmung aller Verbandsmitglieder erforderlich sein. Bestimmt die Satzungsklausel einen Gerichtsstand in einem EU-Mitgliedsstaat und weist der Sachverhalt einen Bezug zu einem anderen EU-Mitgliedsstaat auf, wird das nationale Recht durch Art. 17 des EU-Übereinkommens „über die gerichtliche Zuständigkeit und die Vollstreckung gerichtlicher Entscheidungen in Zivil- und Handelssachen" vom 27.9.1968 (EuGVÜ) verdrängt. Gemäß der Entscheidung des Gerichtshofs der EU (EuGH) vom 10.3.1992 (RS C-214/89, „Powell Duffryn") sind Gerichtsstandsklauseln in der Satzung einer AG „Vereinbarungen über die Zuständigkeit" i.S. des Art. 17 EuGVÜ. Als solche gehen sie in Abweichung vom nationalen Prorogationsvorbehalt des § 40 II ZPO (s.o.) entgegenstehenden ausschließlichen gesetzlichen Gerichtsständen nach deutschem Recht vor. Für die Wirksamkeit der Gerichtsstandsklausel ist es im Anwendungsbereich des EuGVÜ nach der erwähnten Rechtsprechung des EuGH außerdem unerheblich, ob der Gesellschafter, dem gegenüber die Klausel geltend gemacht wird, gegen deren Annahme gestimmt hat. Hierin liegt eine Abweichung von der Kernbereichslehre des deutschen Gesellschaftsrechts (s.o.).

2. Die Ausdehnung der Anwendung des Europarechts auf innerstaatliche Sachverhalte

Die aufgezeigten Differenzen zwischen deutschem und europäischem Recht können dazu führen, daß identische oder zumindest der Sache nach gleichartige tatbestandsmäßig von der Gerichtsstandsklausel erfaßte Streitigkeiten an unterschiedlichen Gerichtsständen verhandelt und ggf. sogar nach unterschiedlichem materiellen Gesellschaftsrecht beurteilt werden, je nachdem, ob der (verklagte oder der klagende) Gesellschafter seinen Wohnsitz im Inland oder im EU-Ausland hat, d.h. ob ein innerstaatlicher (ZPO) oder ein europäischer (EuGVÜ) Rechtsstreit vorliegt, und ob folglich die Gerichtsstandsklausel als wirksam betrachtet wird oder nicht. Man stelle sich etwa eine (zB. börsengehandelte) deutsche AG mit Satzungsklausel zugunsten eines von einem einschlägigen ausschließlichen Gerichtsstand des deutschen Gesellschaftsrechts abweichenden EU-ausländischen Gerichtsstands vor, deren Aktionäre ihren (Wohn-) Sitz sowohl im Inland bzw. in Drittstaaten als auch im EU-Ausland haben. Hier ist es denkbar, daß gegen einunddenselben Hauptversammlungsbeschluß gleichzeitig ein in Deutschland ansässiger Aktionär am deutschen Gesellschaftssitz und ein im EU-Ausland ansässiger Aktionär am ausländischen Gerichtsstand entsprechend der Satzungsklausel klagen. Es besteht dann die Gefahr einander widersprechender Gerichtsentscheidungen. Angesichts des Umstands, dass Deutschland nach Art. 26 EuGVÜ zur Anerkennung der am EU-ausländischen Gerichtsstand getroffenen Entscheidung gezwungen ist, dürfte aus deutscher Sicht der einzige Weg zur Vermeidung eines Entscheidungskonflikts in der Anwendung der Kriterien des EuGVÜ auf die Klage des im Inland ansässigen Aktionärs bestehen mit der Folge, daß deutsche Gerichte ihre Zuständigkeit unter Hinweis auf Art. 17 EuGVÜ zu verneinen hätten. Entsprechende Konflikte mit identischen Streitgegenständen ergeben sich zB. bei sonstigen gesellschaftsrechtlichen Gestaltungsklagen, aber auch bei der actio pro socio (zB. § 309 IV AktG). Zu divergierenden Gerichtsständen für die im In- oder Ausland ansässigen Mitglieder einer deutschen AG bei nicht identischen, sondern gleichartigen Streitgegenständen (zB. Klage auf Zahlung der Dividende; Klage auf Erbringen der Einlage) kann es in der Praxis vor allem in den Fällen kommen, wo einer nachträglich in die Satzung eingefügten (von den §§ 17, 22 ZPO abweichenden) Gerichtsstandsklausel nach deutschem Recht wegen fehlender Zustimmung des (klagenden oder beklagten) Gesellschafters die Anerkennung versagt wird. Weil es nach der Rechtsprechung des EuGH Ziel des EuGVÜ ist, eine derartige Zersplitterung des Gerichtsstandes der Gesellschaft zu vermeiden, gebietet hier möglicherweise eine teleologische Auslegung des Abkommens ausnahmsweise über den Wortlaut hinausgehend eine erweiternde Anwendung des Art. 17 EuGVÜ auf die Klage des im Heimatland der Gesellschaft ansässigen Aktionärs. Hilfsweise ist nach deutschem Recht zu erwägen, ob es noch mit dem verfassungsrechtlichen Grundsatz der Gleichheit vor dem Gesetz (Art. 3 I GG) vereinbar ist, ob es also noch einer sachlichen Differenzierung entspricht, es vom Wohnsitz eines Gesellschafters abhängig zu machen, ob die satzungsmäßige Gerichtsstandsklausel für diesen wirksam ist oder nicht.

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